Donnerstag, 5. Januar 2012

Aufblühen wie eine Hibiskusblüte

Ich kriege gerade noch die Kurve, um allen Lesern  wenigstens ein gutes Neues Jahr zu wünschen, bevor auch dies obsolet wird. Mit guten Weihnachtswünschen wurde es ja nichts, nachdem ich ziemlich viele Tage, inkl. Heiligabend, flachlag. Die zweite Welle kommt nämlich immer, aber der Mensch ist halt ein vergessliches und optimistisches Wesen und denkt, es liefe beim fünften Mal auch mal anders. So kurz war mein Krankenhausaufenthalt noch nie: Donnerstag auf dem OP-Tisch (die fünfte Radiofrequenzablation, kurz: RFA), Samstag schon bei guter Gesundheit heimgeschickt. Nicht zu Unrecht oder gar ungern. Mir ging es so gut, dass ich zu Hause auf dem Tisch tanzte (ok, das ist übertrieben, aber ich habe voller Energie sofort meine Krankenhaustasche ausgepackt und habe stundenlang sonst wie herumgewurstelt und -sortiert, keine Ahnung, was – Energieüberschuss eben). Aber die zweite Welle kommt. Immer. Schon ein-zwei Tage später lag ich im Krankenlager wie sonst auch immer. Und irgendwann verpasse ich mir vor lauter Verzweiflung über die Schmerzen eine Überdosis Morphin. Mittlerweile kann ich mich tatsächlich eindeutig zu denen zählen, deren Schmerzen schwer in Griff zu kriegen sind. Bei der Visite staunen die Ärzte manchmal ganz schön über meine Tagesdosis, bei der ich immer noch völlig klar im Kopf bin. Bei dem Eingriff schickte der operierende Arzt nach einer zweiten Betäubungsdosis, denn „Sie braucht immer besonders viel“. Nach der ersten habe ich noch die Nadelpositionierung genau gespürt. Wirklich nicht angenehm. Genauso mit Morphin, ich brauche viel davon, dabei kriege dieses verdammte Mittel oftmals selten wirklich unter Kontrolle, zumal es mit den retardierenden Mitteln halt so ‚ne Sache ist, die wirken ja mit Verspätung. Selbst Sevredol, d.h. schneller wirkendes Morphin, hält sich nicht an seine eigene Beschreibung und wirkt bei mir keineswegs schnell. Ich würde mir gern selber Spritzen setzen, weil sie sofort wirken und ich damit die Schmerzbekämpfung hinauszögern kann, bis es wirklich nötig ist. Aber das scheint irgendwie eine kleine Schwellenüberschreitung zu sein zu… keine Ahnung, was. Angeblich ist da die Suchtgefahr größer, was ich weder logisch finde noch sonst ernst nehmen kann – in meiner Situation. Da ich diesmal fast nahtlos aus einem Eingriff in die nächste stolperte, bin ich aktuell sowieso zu lange drauf, aber nun bei 5 mg angekommen, was bei mir so gut wie Luft heißt. Aber richtig auf die Beine bin ich nicht gekommen. Der Organismus mag es halt nicht,  wenn er zwei Eingriffe innerhalb von wenigen Wochen hat, zwischen denen normalerweise mindestens drei Monate liegen sollten. Dass diese Eile von einer Mittelknappheit zeugt, was meine weitere Krebsbekämpfung betrifft, steht nicht auf einem anderen, sondern auf genau diesem Blatt. Wir haben halt nix mehr groß, um den Krebs aufzuhalten. Das bedeutet, dass er weiterzuwachsen begann, sobald der Operateur sein Messer beiseite legte. Oder was das genau ist, mit dem er arbeitet. Ein Verbrennungsapparat sozusagen.

Zwischen den beiden Eingriffen war ich ja in Finnland bei meiner Schwester. Mit ihr und ihrer jüngeren Tochter Liisa war ich auch noch drei Tage „drüben“ in Tallinn, meiner Heimat. Sie war zu der Erstvorführungsparty einer zehnteiligen Fernsehserie  eingeladen, die auf ihrem letzten Kinderbuch basiert. Sonst kaufen die estnischen Fernsehstationen ja auch alles ein, eine so gewaltige Eigenproduktion ist schon eine große Sache in Estland, das gab es seit vielen Jahren nicht mehr. Deshalb war das Timing perfekt, denn zusammen in Tallinn sind wir nicht immer.

Ich hatte also auch eine schöne Zeit dazwischen. Merkwürdigerweise ist mir besonders in Erinnerung geblieben, wie ich im Flugzeug nach Hause saß. Um mich herum nur Gesichter, die Überdruss, Langeweile oder Angespanntheit ausdrückten. Nur die Angetrunkenen waren fröhlich - und ich, trotz Abschiedsschmerz und so weiter. Es war so schön, sich gut zu fühlen. Oder genauer: einfach normal. Oberflächlich gesund. Und wenn ich an einem Tag keinerlei Beschwerden habe, bin ich ja an diesem Tag theoretisch gesund. (Eine Aussage, die ich für mich selbst immer wieder gerne wiederhole.) Ich befand mich mit meinem Körper in so friedlicher, harmonischer Ko-Existenz, dass ich ihm – völlig dekadent - im Flugzeug-Bauchladen sogar eine Creme kaufte, die ich nicht brauchte, die mich aber anlächelte und nach dem Öffnen viel, viel besser roch als vermutet. Da ich keinen Nebensitzer hatte, schmierte ich mich damit sogar kurzerhand ein und freute mich zusammen mit meinem immer noch viel zu dünnen Körperchen. Ein schöner Verwöhnmoment in einer ungewöhnlichen Umgebung, der jedes Mal wieder hochkommt, wenn ich mir nach dem Eincremen meinen Unterarm unter die Nase halte. Wie einfach, sich eine Freude zu machen.

Ach ja, Silvester war ja auch noch kürzlich, wir hatten mehrere Tage liebe Freunde zu Besuch, die in der Nähe von Barcelona wohnen, haben mit noch anderen lieben Freunden zum ersten Mal in unserer Wohnung gefeiert und auch wenn ich sehr schlapp war, habe ich voller Begeisterung bei dem Filme-Erraten mitgemacht (mithilfe von Pantomime, wozu ich mich in früheren, gesunden Zeiten ungern herabgelassen hätte. Früher wäre ich allerdings auch nie um Zwei ins Bett gegangen, während die anderen bis Fünf feiern. Zwar habe ich tatsächlich einiges verpasst, aber es schmerzte nicht so sehr wie es früher geschmerzt hätte. Da scheint eine Entwicklung im Gange zu sein.) Es gab also durchaus schöne Tage, für die man dankbar sein kann.

Abgesehen davon müsste ich mich auch jetzt freuen, weil Steffen und ich morgen nach Indonesien fliegen (okay, Bali, Lombok und so). Ganz spontan gebucht, nachdem die billigen Costa-Rica-Tickets wegwaren. So spontan, dass wir die Regenzeit nicht beachteten. Angeblich ist es dort nicht ganz so heftig wie mancherorts in Asien, aber angeblich hat Wulff auch die Berichterstattung in der „Bild“-Zeitung nur verzögern und nicht verhindern wollen (dies dient zur Demonstration meiner Tagesaktualität, die sich meistens sehr missen lässt. Leider habe oder hatte ich gegen Wulff nicht besonders viel, während ich mich an der Guttenberg-Debatte richtig ergötzen und meine niederen Instinkte rauslassen konnte (aber seine Reaktion war ja auch unerträglich, bei Wulff ist sie wenigstens nur normal peinlich). Interessant ist für mich in der Wulff-Sache vor allem, dass jemand, der sich als der ruhigste Mensch Deutschlands gibt, so in Panik geraten kann, dass er einem der gefährlichsten Menschen Deutschlands sein so oder so nicht ganz koscheres Anliegen einfach aufs Band spricht. Das ist doch keine Überschätzung der eigenen Macht, so handelt m.E. ein Panikeur. Ich schaue gerne hinter die menschlichen Kulissen, nur leider sind diese oft eh so fadenscheinig und dahinter ist genau das, was man erwartet: ein Mensch. Wie mit den Gastarbeitern: „Wir riefen nach Arbeitskräften, aber es kamen Menschen“ – „Wulff hat sich zum Bundespräsidenten gemausert, aber in Bellevue eingezogen ist ein Mensch“). So, dieser Abstecher von Bali zu Wulff sucht in der Verbindungsferne Seinesgleichen. Jedenfalls müsste ich für Bali packen („aber ich bin ein Mensch“), nur habe ich keinerlei Energie und Kraft, alles geht im Schneckentempo und jedes Aufstehen kostet unendlich Mühe. Wenn ich Steffen sehe, der sich federleicht aus dem Sessel schwingt, wenn ihm was einfällt, was er noch mitnehmen muss, werde ich neidisch. Hätte ich bloß ein Quäntchen seiner Energie! Ich habe allerdings fest vor, auf Bali aufzublühen wie eine junge Hibiskusblüte in der Regenzeit.

Das  Problem mit der Spontaneität: Man hat keine Zeit für Vorfreude. Man kann sich auch nicht sagen: „Gerade ist alles so blöd, aber in drei Wochen bin ich auf Bali!“ Ich bin geistig null vorbereitet und kann mir nicht vorstellen, dass mich ein stählerner Vogel in seinem Bauch morgen fast auf die andere Seite der Welt tragen wird. Dass es Flugzeuge gibt, versetzt mich manchmal immer noch ins Staunen, auch wenn ich finde, dass der Mensch fürs Fliegen eigentlich nicht gemacht ist. Was meine Dankbarkeit für diese Erfindung nicht schmälert. Müsste ich mit einer Postkutsche nach Bali, müsste ich schon seit Monaten unterwegs sein und würde meine Chemotermine verpassen. Jetzt verpasse ich zwar auch einen, aber das gehört zur Spontanität. Ich lebe zwar durch, aber nicht für die Chemo. Hab ja meine Tabletten auch noch, die vermutlich mittlerweile genauso wenig bringen. 

Ich weiß nicht genau, warum ich beim Packen immer wieder weinen muss (ich quäle mich beim Schreiben ab und zu vom Sofa und gehe was Wichtiges holen, was in die Tasche muss). Es ist nicht gesagt, dass es meine letzte Reise bleiben wird. Auch unseren Hund haben wir vor solchen Reisen schon oft genug zu Steffens Eltern oder zu seiner Tante gegeben, die sie alle sehr lieben und umgekehrt, daran kann es also auch nicht wirklich liegen. Undeutbare Emotionen, jedenfalls nicht ausschließlich Dankbarkeit, noch eine Reise erleben zu dürfen, was allerdings auch schon Grund genug zum Weinen gäbe. Vielleicht ist einfach alles gerade zu viel oder zu schnell oder habe ich einfach Angst vor den langen Flügen, bei denen es wegen meiner Kraftlosigkeit und Langsamkeit auch nicht zur Hetze kommen darf. Oder liegt es daran, dass Steffen zwei Tage nach unserer Wiederkehr in Frankfurt seinen neuen Job antritt, 200 km von hier. Allerdings sind es noch Wochen bis dahin – eine lange Zeit. Um das alles zu erläutern, braucht es einen eigenen Beitrag, zu dem ich heute aber nicht mehr komme.

Und wieder eine kleine Heuleinlage, toll. Ich muss wohl öfter mein aktuelles Mantra wiederholen: „Auf Bali blühe ich auf wie eine Hibiskusblüte“.