Donnerstag, 30. Juni 2011

Ich sehe nicht mehr aus wie ein Schwein


In den letzten fast zwei Wochen sah ich aus wie ein Schwein und konnte weder lesen noch schreiben. Das, was ich für eine schmerzhaft-juckende Augenentzündung hielt, erstreckte sich irgendwann über den ganzen Kopf und Hals und besserte sich ganz langsam erst, als ich die Methoden á la „Was die Großmutter noch wusste“ dann doch beiseite schob und eigenmächtig eine innerliche Kortisontherapie begann (mein Arzt war im Urlaub). War wohl auch genau richtig (er ist mittlerweile wieder da). Da die Augen für Tätigkeiten wie Lesen,  Schreiben oder Fernsehen völlig ausgefallen waren (also im übertragenen Sinne), ich selbst gesellschaftsunfähig und –willig war und mein Gesicht weder kratzen durfte noch sonst was tun konnte, um den Heilungsprozess zu beschleunigen, beschloss ich irgendwann, die negative Energie einfach in positive umzuwandeln: Ich habe geputzt wie ein Wahnsinniger. Und das über Tage. Endlich spüre auch ich das Erfolgserlebnis einer wahrhaft ehrgeizigen Hausfrau: Jeden Winkel, und sei er noch so dunkel, jede Ritze, und sei sie noch so schmal, sauber zu haben. Steffen hatte Glück, dass er während dieser Tage in Berlin war, sonst wäre er ziemlich genervt gewesen und der Haussegen hätte vor so viel Unordnung im Namen der bald eintreffenden Superordnung mehr als schief gehangen.

Für das nächste Mal, falls dieses in dieser obsessiven Form je wieder kommen sollte, habe ich wohl sogar schon die musikalische Untermalung parat: Anfangs, wenn man voll jugendlichen Elan ist, kommt Hoss Boss rein (bei denen waren wir zweimal auf Konzert, schon als sie ganz „klein“ waren), wenn man sich fröhlich in Rage geputzt hat, dann Prodigy (bei denen waren wir auch, aber da waren sie schon groß), zwischendurch auch mal den lustigen singenden Rabbi, den Anne mir kürzlich schickte, und wenn der nicht mehr wirkt, dann wieder Prodigy. Größtenteils gute Laune und guter Arbeitseffekt.
Kommt man langsam zum Nachdenken, ob man eigentlich bescheuert ist, in einem solchen Tempo zu arbeiten und wo, beziehungsweise eher: ob man eigentlich weitermachen soll, ist Zeit für Beständigkeit, aber immer noch fröhlich, d.h. Abba, Tropicalia, oder zum Beispiel Fanta Vier: „Du wirst geboren, was machst du draus. Baust ein Haus, ziehst da rein, schaust da raus, atmest ein und atmest aus.“ Genau. Schon geht das Schrubben besser, aber so, dass der Arm nicht mehr so Weh tut.
„Was ist der Sinn? Ist da noch mehr?“ Diese Frage ist bei mir wohl ständig präsent, täglich, mehrmals, selbst wenn ich nicht daran denke, das heißt, nicht explizit in meinem Kopf formuliere. „Wo gehen wir hin? Wo kommen wir her?“ Gute Frage, wichtige Frage. Aber heute putze ich.
Miles Davis ist für klares Wasser und weiche Tücher vorgesehen, oder wenn man schon was für zwischendurch zu bewundern hat. Angelo Branduardi auch, aber der könnte einen dazu bewegen, die eine Fläche nochmal zu wischen, die aus der Ferne nicht mehr so glänzt, deshalb am Ende nur noch Miles Davis, der ist Vollendung. Ich könnte jetzt mein ganzes Musikprogramm und die benutzten Mittel aufzählen, aber meine immer noch geschundenen Augen tränen schon wieder und eigentlich wollte ich erzählen: Ich fliege morgen nach Namibia. Ich habe ein Fernweh, das geht auf keine Kuhhaut. Spontan gebucht wie fast immer, das ist halt bei mir und Steffen situationsbedingt so. Allen Unkenrufen zutrotz („Etosha musst du ein Jahr im Voraus buchen!“) steht zumindest die erste Hälfte der Reise, inkl. drei Übernachtungen in Okaukuejo (am angeblich besten Wasserloch in Etosha), den Rest müssen wir dann schauen. Es ist ja keine „Hummeldumm“-Busreise, sondern Allradmietwagen und Individual.

Namibia fasziniert mich seit Langem, ich war übrigens noch nie in Afrika  (Ägypten zählt ja nicht) und fühle, dass meinem Weltbild deshalb ein zu großes Puzzleteil fehlt. Die Wiege der Menschheit. Ich sehe mich deshalb irgendwie in Embryostellung auf warmer Erde Afrikas liegen, vielleicht in der Wüstengegend oder im Damaraland, oder im Kaokoveld. Vermutlich werde ich dort in Wirklichkeit nirgends herumliegen, noch weniger in Embryostellung, auch wenn es so menschenleer ist, dass es keineswegs Aufsehen erregen würde, außer bei Steffen vielleicht. Der mich dann vor Skorpionen, Schlangen, Spinnen warnen würde (zurecht) und fragen würde, wie lange ich so wohl liegen bleiben will und wann wir weiter fahren. Aber mein Herz ist so voller Vorfreude, dass ich nicht weiter von meinen mit diesem Land verbundenen Vorstellungen erzählen will, ich muss nämlich noch was machen, bevor ich gleich schlafen gehe.

Gepackt habe ich noch nicht, es existiert allerdings ein ansehnlicher Haufen auf dem Boden, der nur irgendwie in die Tasche muss. Da ich meine morgige Chemo zum Glück auf heute verschieben konnte („Ja, was du morgen könntest besorgen, das verschiebe besser auf heute“. Warum hier der Reim auf der Strecke blieb, weiß ich grad’ nicht. Und warum meine Tumormarker plötzlich auf das Dreifache gestiegen sind, weiß ich noch weniger. Aber ich verweigere mich momentan, meiner Reise durch diese Nachricht auch nur ein Mikrogramm Vorfreude nehmen zu lassen. Vermutlich habe ich zu lange keine größere Reise unternommen, das wird's sein, also höchste Zeit, mein Leben wieder mal zu verlängern.) Ich habe also massig Zeit. Theoretisch zumindest. Aber ich mache jetzt mal Schluss, sonst fange ich doch noch an,  hier schriftlich von Namibia zu träumen. Das mache ich dann besser in natura, das heißt, im Schlaf. Gute Nacht und hoffentlich bis bald - in nicht alter, sondern neuer Frische.

Mittwoch, 8. Juni 2011

Was war?

Ich muss immer selber nachschauen: Von welchem Zeitpunkt an soll ich berichten, was die datierten Ereignisse angehen? Wie ich schon im letzten Beitrag sagte: Mich interessiert nicht, was die anderen machen, mich interessiert, was sie denken. Deshalb übergehe ich oft, was ich selbst mache, weil es an sich uninteressant ist. Und was innerhalb eines bestimmten Zeitraums war, spielt für mich keine Rolle, Daten verlieren immer mehr ihren Wert für mich, Chronologie interessiert mich nicht so sehr. Es kommt auf Erlebnisse an, wann immer die passierten.

Nichtsdestotrotz. Es ging kürzlich um das Thema „Medienauftritt“, genauer: SWR Landesschau. Was soll ich sagen: Auch wenn sich der Neuheitswert – huch, Fernsehen! Was ziehe ich bloß an und hoffentlich habe ich keinen Blackout! - mittlerweile ein wenig abgenutzt hat und es auch hinter den Kulissen einfach ganz normale Arbeit ist: Mit Fernsehleuten mache ich bisher supernette Erfahrungen, ich hab sie lieb. Auch das Team von der Landesschau SWR, das mich zu Hause besucht hat, war reizend, ich schloss sie alle im Nu in mein Herz. Ich habe auch kein Problem mit „Jetzt ordnen Sie die Rosen in der Vase nochmal“ und „Nippen Sie einmal am Glas und schauen verträumt in die Ferne“. Es macht mir mittlerweile sogar Spaß - vielleicht bin ich schon verdorben. Aber die Leute vom Fernsehen sind immer echt nett und machen auch nur ihre Arbeit, die ich nicht zu den schlechtesten oder langweiligsten zähle. Könnte mir auch vorstellen, so etwas zu machen, wenn diese Frage sich mir jemals wieder stellen würde. Was sie aus meinem Balkon rausgeholt haben – welche Perspektive, welche Weite und Vielfalt! Muss toll sein, mein Balkon!

Die Sendung war - abgesehen von meiner Performance natürlich, an dem ich jedes Mal herummäkeln MUSS, sehr nett. Das Fernsehteam einfach goldig, der Moderator Jürgen Hörig so sympathisch, dass ich – auch wenn ich kein großer Knuddler von fremden Menschen bin - ihn hätte knuddeln wollen, die Athmosphäre den Arbeitsumständen entsprechend recht entspannt, und ich danach zu Hause groggy. Aber angenehm groggy, als hätte ich was geleistet. Wenn man kein Arbeitsleben hat, ist es schon mal was, so ein Fernsehauftritt. Einen Lachanfall hatte ich auch, als ich zu Hause merkte, dass ich mit meiner alten, speckigen Perücke im Fernsehen war, die ich eigentlich längst wegschmeißen wollte und die nur aus dem Grund noch direkt neben der anderen hing, weil ich sie EVENTUELL noch zu besonders heißen und schwitzigen Sommertagen anziehen wollte, für die meine „gute“ Perücke zu schade gewesen wäre. Lachanfälle sind fast das Wertvollste im Leben, also danke, liebe Landesschau.

Das war jetzt die Abhakung dieser Geschichte, die Thema in einem der letzten datumsbezogenen Beiträge war. Was alles danach war, oder was überhaupt in den letzten Wochen oder Monaten war, kann ich nie mehr zusammenkriegen. Es war jedenfalls eine gute Zeit, so viel steht fest. Was mir davon spontan einfällt: Ich habe liebe Menschen getroffen, Freunde aus In- und Ausland. Habe ein paar schöne Grill- und Sonstfeste mitgefeiert, viel gesprochen und noch mehr zugehört. Meine Schwester Kristiina war eine Woche lang zu Besuch, das Wochenende verbrachten wir gemeinsam auf der Saarbrückener Kinderbuchmesse, wo sie als estnische Schriftstellerin zu Lesungen eingeladen war. Ich war im Theater, Oper und Kabarett (Über die Kabarettvorstellungen und über die Oper habe ich sogar eine lange Rezension geschrieben, scheute mich dann aber doch, sie reinzustellen, weil sie zu unkonventionell war und ich nicht für verrückt gehalten werden wollte.) Ich habe einen Haufen Bücher gelesen und Filme gesehen, aber über mein (verändertes?) Verhältnis dazu sollte ich vielleicht einen eigenen Beitrag schreiben. Vor drei Tagen habe ich eine Hundezüchterin besucht mit vier Wochen alten Welpen, von denen einer künftig meinen Freunden gehört. Fünf Stunden saßen wir zu viert da und freuten uns einfach. Tiere machen uns zu besseren Menschen, davon bin ich überzeugt. Da meine Mundschleimhäute momentan recht ansehnlich sind, habe ich viele Mahlzeiten zu mir nehmen können, die mich keineswegs anekelten, und mehrere, die mir einen regelrechten Genuss bereiteten. Eines Nachts oder Morgens, als ich nicht schlafen konnte, habe ich einen Sonnenaufgang erlebt, der mich tränenüberströmt wieder ins Bett gehen ließ. Ich ging bewusst schlafen, bevor der glühende Streifen mit seinem im Wortsinn überirdischen Farbenspiel ganz verschwunden war und der Tag oder zumindest die Sonne offiziell begonnen hatte. Und ich erkläre ebenso bewusst nicht, was ich dabei fühlte oder warum ich es nicht komplett auskostete.

Ich habe also nichts Besonderes zu erzählen. Was mache ich denn groß? Ich mache nichts, was irgendwie interessant wäre oder was andere nicht tun würden. Aber es ist einfach alles so schön.

Hier ein Foto von vor einer Woche, entstanden in dem Zen-Garten des Saarbrückener Hotels. Ich bin zwar todmüde nach den Messetagen, sehe aber nicht gerade sterbend aus, finde ich. Die Perücke sitzt allerdings wieder mal schief.



Aber was MACHEN Sie denn so?

Ich werde oft gefragt, was ich denn so mache oder gemacht habe, insbesondere wenn ich ein paar Wochen nichts geschrieben habe. Die Antwort lautet meistens, nein, immer: Ich habe gelebt! Da blieb keine Zeit fürs Bloggen. Dass mein Blog kein Logbuch ist mit den genauen Trajektoren meines Treibens, auch wenn das Wort Log drinsteckt, sollte klar sein. Es interessiert mich selber meistens nicht, was die anderen MACHEN. Mich interessiert, was sie DENKEN. Da ich aber ein zuvorkommender Mensch bin, habe ich nachgedacht, was ich in den letzten Wochen oder Monaten denn tatsächlich so gemacht habe. Genauer: Was habe ich gemacht, wovon ich Fotos habe? Ich habe Fotos zum Beispiel von dieser Sache hier.



Wunderschön, aber kein Vergleich zum ersten Mal, das ich in meinem Buch so beschreibe:

Seit meiner Krankheit mache ich Sachen, die ich vielleicht nie getan hätte, wenn ich mehr Lebenszeit hätte. Einmal habe ich mich trotz meiner Höhenangst zu einem Tandemflug mit dem Gleitschirm durchgerungen. Schon nach den ersten Metern in der Luft wusste ich: Wegen solcher Erlebnisse möchte ich mein Leben nicht missen. Ich heulte dabei wie ein Schlosshund, benetzte quasi mit meinen Tränen die Erde, während ich auf sie zuschwebte.“

Diesmal habe ich nicht geheult. Stattdessen habe ich höchstens mit geographischem, geologischem und städtebaulichem Interesse die Umgebung von oben betrachtet und gedacht: „Sieh mal an, in diesem Miniort hat auch einer einen Swimmingpool. Der Bürgermeister? Mal schauen, ob irgendwo noch einer einen hat. Nee, wohl nicht. Ok, die schlechte Konjunktur, oder die durchschnittliche Jahrestemperatur ist zu niedrig zum Schwimmen. Es müsste aber warm genug sein, und vom Skifahren allein können sie nicht leben, es ist ja auch ein ausgewiesenes Sommerziel: Kühe, Gras und Fachwerkhäuser. Aber den Schrotthaufen da links, wo unser Auto steht - was macht diese Jugendgang da eigentlich neben unserem Auto? -, müssten die echt mal wegmachen, der kommt nicht so gut von oben. Oh, wir landen gleich. Was hat er noch gesagt - die Füße nicht einziehen, sondern schön mitlanden.“

Ich sah meine eigenen Thesen bestätigt: Neue Erlebnisse verlängern das Leben. Wiederholung ist nicht dasselbe. Routine verkürzt das Leben.

Dies war mit einer monotonen Höhlenmenschenstimme gesprochen. Und jetzt normal: Warum ist das bloß so? Warum kann man Glück so selten erleben? Warum habe ich mir selbst alles kaputt gemacht? Sind Erwartungen der Tod eines jeden Erlebnisses? Folgendes ist keineswegs eine Antwort. Auch keine Frage, sondern höchstens eine Teilfrage auf eine Teilantwort. Ja, genau so verquer.

Es braucht wohl doch Adrenalin, ein klein wenig Angst, um starke Emotionen zu spüren. Ich bin alles andere als ein Adrenalinjunkie, und obwohl es kaum etwas Schöneres gibt als die eigene Angst zu überwinden, kann ich von Angstüberwindung nicht mein restliches Leben zusammenbasteln, das wäre mir zu wenig. Nichtsdestotrotz habe ich bei diesem Flug, von dem ich mir so viel versprach, etwas vermisst. Vielleicht mich selber.

Nun hätte ich in der Luft Seifenblasen machen können, oder lesen, oder ein paar lustige Loopings, wenn der Fluglehrer das erlaubt hätte, oder wenn ich ihn überhaupt gefragt hätte. Vermutlich hätte er dann ganz schnell landen wollen. Ich hatte ihm schon vorher gesagt: "Mir wäre lieber, wenn wir in der Luft nicht sprechen". Letztes Mal hat er nämlich immer erklärt, was für ein See oder Hügel da drüben zu sehen sei. Ich saß vor ihm, ohne dass er mein Gesicht sah. Und weinte. Ich weinte und war glücklich, und wollte keine Menschensprache hören, die diesen Hügeln oder Seen Namen gegeben hat. Ich war diese Hügel, ich war diese Seen, ich fühlte mich Gott nahe. 

Nichts war ich diesmal. Ein armseliges Menschenwürstchen war ich, das überlegte, ob der Bürgermeister wohl korrupt sei, wenn er sich als Einziger einen Swimmingpool leisten kann.