Montag, 18. April 2011

Mein aktueller Gesundheitszustand April 2011 oder: Das Leben ist nicht totzukriegen

 
Mir geht es gut. Ja, mir geht es ausgesprochen gut. Der Frühling lässt meine Lebensgeister erwachen: Ich oder wir alle scheinen doch irgendwie einfach Geschöpfe der Natur zu sein, schwingen in seinem Rhythmus, nicht nur mental, sondern auch körperlich. Eigentlich bin ich mir nicht sicher, in welcher Jahreszeit ich am liebsten sterben würde. Vielleicht wäre es sogar leichter im Spätherbst oder Winter zu gehen, wenn auch die Natur tot ist und man nicht sieht, wie überall das neue Leben erwacht, an dem man nie mehr teilhaben wird. Aber an den Tod denke ich gerade nicht, ich denke an das Leben. Und bin dankbar, noch einen Frühling erleben zu dürfen, und, wenn’s nicht ganz blöd läuft, sogar noch einen Sommer. Allerdings, gierig wie ich bin, denke ich natürlich schon an den nächsten Frühling. Bzw. ich frage mich: Ist DIESER jetzt der letzte, oder kommt doch noch einer? Furchtbar. Dabei predige ich doch: Nicht an die (düstere) Zukunft denken, sondern sich an dem Schönen JETZT erfreuen.

Okay, ich will mich ausschließlich an dem Schönen erfreuen. Das heißt: Auch an meinen schönen inneren Werten. Einige meiner zahlreichen Lebermetastasen sind verschwunden, zumindest die zwei besonders eifrigen und aktiven, die ganz nah an den Nieren saßen. Ein paar andere sind ebenfalls angenehm löchrig oder sonst wie diffus geworden. Und einer der Tumormarker ist seit ca. hundert Jahren sogar wieder im Normbereich. Natürlich wird es nicht so bleiben, aber HEUTE ist es so. Danke, liebe Metastasen.

Anbei ein paar Fotos, die ich auf meinem Balkon aufgenommen habe und die den Untertitel „Das Leben ist nicht totzukriegen“ begründen sollen. Ich habe dieses Jahr noch gar nichts eingepflanzt, auch wenn ich im Frühjahr öfter mal ein großzügiger, um nicht zu sagen: außer Rand und Band geratener Kunde von „Pflanzen Kölle“ war. Zitronenmelisse brauche ich dort jedenfalls nie mehr zu kaufen, die prescht jedes Jahr durch alle Balkonritzen hervor und ist von Gartenbesitzern angeblich verhasst, weil man sie nie mehr loskriegt, wenn sie einmal da ist. Ich sage: Zitronenmelisse, willkommen! Mach dich breit und gedeihe und gib mir das Gefühl, fast in einem verwucherten Garten zu sitzen. Alles, was auf den Bildern zu sehen ist, ist natürlich gewachsen, oder natürlich eingegangen, teilweise nebeneinander in einem Topf. Genau wie im richtigen Leben: Leben und Tod liegen dicht beieinander. Wobei ich gleich die Frage hinterher schieben muss: Was ist das richtige Leben? Na, das hier ist es jedenfalls ganz sicher.

Jeder Frühling ist für mich also eine Überraschung, auch was meinen Balkon betrifft. Da ich nie weiß, wer oder was den Winter überlebt, bzw. was davon mehrjährige Pflanzen sind, lasse ich sie einfach alle in ihren Töpfen und freue mich, wenn sie wiederkommen. Der Löwenzahn ist ganz neu, sein Pollen hat ganz schön hoch fliegen müssen, um mitten in meinem Topf zu landen (alle Achtung und willkommen), in dem ansonsten schon zum dritten Mal ein nettes Geflecht wächst, das irgendwann im Sommer kleine dunkelblaue Blüten trägt. Keine Ahnung, wo es herkam oder wie es heißt, es ist einfach wunderschön.


Freitag, 15. April 2011

Tag der selektiven Wahrnehmung

Drei Meldungen von einem Tag, die mich den Satz „Mein Leben ist absurd“ (Betonung auf „Mein“) wieder einmal relativieren lassen.

Erste Meldung.
Ein LKW-Fahrer, der mit 20.000 Liter Gülle im Landkreis Vechta unterwegs war, hat die Kontrolle über seinen Wagen verloren und ist kopfüber im Straßengraben gelandet. Als die Feuerwehr ihn befreite, war er bereits in der ausgelaufenen Gülle ertrunken.

Ich stelle mir mal Folgendes vor. Diesem LKW-Fahrer wird am Morgen mitgeteilt, dass er heute sterben wird, er dies jedoch abwenden könne, wenn er errät, unter welchen Umständen genau dies passieren wird. Ich fürchte, selbst bei überdurchschnittlicher Phantasiebegabung wäre der Mann nicht auf die richtige Lösung gekommen.

Die zweite Meldung
Ein 35-jähriger Geisterfahrer mit ziemlich offensichtlichen Selbstmordabsichten ist in der Nähe von Tübingen frontal in ein entgegenkommendes Fahrzeug gerast. In jenem saß eine dreiköpfige Familie. Die 40-jährige Frau und ihre 11-jährige Tochter wurden schwer verletzt, der Fahrer, der 43-jährige Familienvater, kam ums Leben. Der Selbstmörder hat überlebt.
Diese Meldung lasse ich jetzt am besten unkommentiert.

Dritte Meldung.
Barbara und Mario Martin aus Niederbrechen bei Limburg  kämpfen bei Behörden darum, dass ihre drei toten Kinder offiziell als ehemals und kurzzeitig existent anerkannt werden. Die Nabelschnur des ersten Kindes, das schon vor einem Jahr mit 440 Gramm tot auf die Welt kam, soll nämlich kurz pulsiert haben – ein Grund zur Anerkennung, wie es auch das Gesetz vorsieht. Zu spät für die Eltern, die im Krankenhaus darüber nicht aufgeklärt wurden.

Die beiden später erfolgten Zwillinge kamen ohne eine Überlebenschance auf die Welt, das eine mit 290 Gramm, das andere, das immerhin einen Tag überlebte, mit 500 Gramm. Damit bekommt dieses eine Geburts- und eine Todesurkunde, der kleinere tote Zwilling nicht, dieser wird demzufolge offiziell auch nie existiert haben. Genauso wenig wie das allererste Kind mit seinen 440 Gramm, dessen später Trumpf nun allerdings die erwähnte Nabelschnur ist. (Ein dokumentierter Atemzug wäre übrigens ebenfalls ein Anerkennungsgrund.) Die Grenze des Menschen liegt nämlich bei 500 Gramm.

Immerhin wurden ihre Kinder - auf ihren Wunsch hin - bestattet und nicht, wie es noch vor wenigen Jahren üblich war, zusammen mit amputierten Gliedmaßen, Tumoren und anderem Klinikmüll entsorgt.

Eine Frage: Wie viel wiegt eine befruchtete Eizelle? Da man sie unter einem Mikroskop betrachten muss, werde ich wohl nicht ganz danebenliegen, wenn ich annehme: Weniger als 500 Gramm. Also noch eine Frage: Warum genießt eine befruchtete Eizelle mehr Rechte als solche Kinder bzw. deren Eltern? Ein Kind von einem Pfund  ist kein Klumpen, geschweige denn Zellhaufen, sondern ein fast fertiger, wenn auch schwächlicher Mensch. Und was es für die Eltern bedeutet oder bedeuten darf, einen offiziellen Existenzbeweis ihrer Kinder in den Hälten zu halten, kann wohl niemand beurteilen.

Ein ganz anderes und doch genau gleiches Thema. Gerade ist ja die PID-Diskussion wieder groß im Gange: Ob es erlaubt sein soll, den eben angesprochenen Zellhaufen auf Krankheiten zu untersuchen und kranke Zellen einer Frau mit Kinderwunsch eben doch nicht einzupflanzen. Insbesondere wenn sie bekanntermaßen Trägerin einer genetisch übertragbaren Krankheit ist, schon kranke Kinder hat, oder sich sonst wie überfordert fühlen würde. Der Grund geht ja eigentlich niemanden etwas an. Ihr bliebe in ihrer Verzweiflung nur eine ganz reguläre spätere Abtreibung, wie sie jeder gesunden Frau auch ohne eine zurückliegende körperliche oder seelische Odyssee ebenso erlaubt ist. Ich will mir hier auch kein moralisches oder sonstiges Urteil anmaßen, nur wieder eine Frage: Hallo, gehts noch mit der Logik?

Natürlich ist das Geflecht der Probleme, die Entscheidungen über Leben und Tod generell mit sich bringen, schier unüberschaubar, eine vernünftige Entknäuelung kaum möglich. Insofern leben wir damit sowieso in einer Grauzone, und meistens nicht mal so schlecht, zumindest nicht, solange es der Humanität dient. Dass jedes Leben gleich viel wert ist, steht heute zum Glück außer Frage, und doch führt das Verfolgen dieses Credos meines Erachtens hier ad absurdum, d.h. zum Gegenteil dessen, was man erreichen möchte. Das Ganze lässt mich jedenfalls an einen edelmütigen Dichter denken, der bei einem Spaziergang den stolzen Adler weit oben in den Lüften besingt, während er - sehenden Auges, nicht aus Zerstreutheit! - auf dem Boden liegende Vogelnester zerstrampelt. 

Die Fragen um Leben und Tod sind wohl einfach genauso vielfältig und individuell wie jedes einzelne Leben und jeder einzelne Tod. Auch wenn mein eigenes Thema weniger der Lebensanfang als das Lebensende ist, zeige ich, wie ihr seht, lebhaftes (!) Interesse an allen Lebensfragen. Und Manches begreife ich einfach nicht. Vielleicht liegt es auch daran, dass es nicht zu begreifen ist?

Dienstag, 5. April 2011

Von wegen "Tabula rasa"

Heute hatte ich Gelegenheit, dem Entstehen neuen Lebens beizuwohnen – ich war beim Kükenschlupf und bin immer noch ganz überwältigt. Wie muss es da noch sein, einem Elefantenbaby bei der Geburt zuzuschauen! (Oder Knut.)

Eine Frau, die auf der Neugeborenenstation gearbeitet hat, sagte mir mal, dass sie es für Blödsinn hält, den Neugeborenen als ein unbeschriebenes Blatt zu bezeichnen. Jedes Baby hat schon einen ausgeprägten Charakter, das könne man schon allein durch die Mimik und Gestik sowie die verschiedenen Arten des Schreiens feststellen: Der eine plärrt sich vor Wut heiser, der andere quäkt ganz leise und unentschlossen, der dritte gibt kaum einen Mucks von sich. Und der eine hebt permanent verwundert die Augenbrauen, der andere runzelt die Stirn oder die Nase, der dritte will nichts wissen, sondern immer nur seine Ruhe haben. Und die Milch natürlich. 

Selbst frisch geschlüpfte Küken bringen einen eigenen Charakter mit in diese Welt. Und der Überlebenskampf und der Kampf um einen Platz in der Gesellschaft gehen schon mit den ersten Lebensminuten los. Der eine liegt apathisch in der Ecke und versucht sich zu besinnen, woher er kam und wo er ist, und warum eigentlich. (Naja, so in etwa.) Der andere ist voller Elan, klettert über die anderen hinweg und steckt seine Nase überall hin. Dieses niedliche Wesen auf dem Foto, etwas klein geraten, aber bereits ein Querulant, hatte nichts besseres zu tun, als den anderen, der nicht so glücklich darüber war, wo er nach der ganzen Anstrengung gelandet war, mächtig auf Trab zu halten. (Vielleicht schon zu viel Testosteron im Körper.) Selber kaum Federn am Hintern, aber schon den Schwächeren fertig machen und auf ihm rumhacken.

Wie oben, so unten – falls man uns Menschen unbedingt als „oben“ bezeichnen möchte.

P.S.
Den Kreis kann man theoretisch auch erweitern. Ich stelle mir die Welt gerade also als eine Schrebergartenkolonie vor: Der eine Nachbar pflegt liebevoll seine Dahlien und ist lieber für sich allein, der andere wirft Müll über den Zaun, unterdrückt seine eigene Frau und die Kinder und proletet auf jeder Gartenparty herum, bis sie in einer Schlägerei endet. Die Vereinsvorstandsmitglieder appellieren an die Vernunft und holen sich ein blaues Auge. Die restlichen Nachbarn schütteln den Kopf und schwören sich, mit solchen Nachbarn nie wieder was zu tun haben zu wollen. Zumindest bis zur nächsten Party.

Ich hoffe, dass es irgendwo im Universum nicht heißt: "Ja, ja, die Erde! Was für ein dummer, ignoranter Nachbar! Denkt, er wäre der Größte, dabei ist er gerade dabei, seine Hütte abzufackeln. Naja, was soll’s, dann kriegt das Grundstück vielleicht endlich jemand Gescheites."


Sonntag, 3. April 2011

Weltreise auf der Wand



Wer mein Buch gelesen hat, weiß vielleicht noch, wo mein Fernweh seinen Anfang nahm. Anbei die "Beweisfotos" und die entsprechende Stelle im Buch. Zur Erinnerung: Wir lebten hinter dem Eisernen Vorhang in Estland. Diese Weltkarte begleitete mich meine ganze Kindheit hindurch.

Ich bin die mit dem Pferdeschwanz, links ist meine Schwester Kristiina.

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Als ich fünf Jahre alt war, hängte unser Vater im gemeinsamen Kinderzimmer von mir und meiner Schwester Kristiina eine riesige bunte Weltkarte auf. Von nun an war eines unserer Lieblingsspiele: „Die Weltreise an der Wand.“ Wir wussten nichts von der Welt, wollten sie aber beide kennenlernen.
Damals hatten wir unsere eigenen Kinderkriterien für schöne Länder: nette Farbe, interessanter Name oder lustige Form. Italien war deshalb natürlich ziemlich begehrt – hier lief auch unsere Fantasie regelrecht in Siebenmeilenstiefeln herum. Argentinien – das ich allerdings bis heute nicht besucht habe – nahm meist diejenige, die durchs Losglück mit der Weltreise anfangen durfte. Wir reisten nämlich abwechselnd und kein Land durfte zweimal genommen werden. Argentinien war auf der Karte nicht nur rosa eingefärbt, sondern der Name klang so wunderbar, wie der einer Blume oder eines Tanzes. Dort mussten wohl Feen leben. Venezuela – das ich ebenfalls bis heute nie besucht habe – war zwar langweilig beige, aber dieses Wort konnte man schwärmerisch in die Länge ziehen, während man einen triumphierenden Blick zu der anderen hinüberwarf. Wer dort wohnte, wussten wir nicht, aber wir dachten uns auch zu diesem Land unsere eigenen Geschichten aus. Fiel uns nichts Neues ein, lebte dort einfach ein trauriges, aber sehr schönes und kluges Waisenkind, das sein Glück suchte und natürlich auch fand. Was ein solches Glück wäre, davon hatten wir keine rechte Vorstellung, aber immer ging in den Märchen jemand in die große weite Welt hinaus und suchte es.
Leider endete das Spiel oft im Streit, denn es war zu nervenaufreibend, um die Länder der Welt zu kämpfen, während wir zusammengepfercht in einem Sessel saßen, der nachts zu meinem Bett ausgeklappt wurde.

...

Jede einzelne Reise ist wie ein ganzes kleines Leben: Man macht sich auf den Weg, kommt – idealerweise – auch an, schaut sich um, staunt, freut und ärgert sich auch mal oder ist gar verzweifelt, wenn gerade alles schief läuft. Aber am Ende hat man den Ort und seine Menschen ins Herz geschlossen. Und selbst wenn nicht, dann nimmt man sie trotzdem mit nach Hause. Auf diese Weise verlängert Reisen mein Leben, denn je mehr man erlebt, desto mehr lebt man auch.
Seit ich weiß, dass es keine Heilung geben wird, außer es geschieht ein Wunder, habe ich von der Welt mehr gesehen als die Bewohner einer mittelgroßen Stadt im 19. Jahrhundert zusammen, inklusive Bürgermeister. Wie kann man da denn nicht dankbar sein!