Donnerstag, 24. März 2011

Tschernobyl


1986, im Jahr des Tschernobyl, war ich Siebzehn. Ende April verbrachte ich die erstaunlich sonnigen und warmen Frühlingstage im Bikini, zusammen mit einer Freundin auf dem Dach unseres achtstöckigen Plattenbaus. Das waren einige wunderschöne Jugend- und Frühlingstage, abgesehen von dem Sonnenbrand, dem wir uns jedoch jeden Tag von neuem stellten. Wir waren jung und schön, wollten aber noch schöner werden. Solarien gab es noch nicht, ein so tolles Wetter Ende April in Estland üblicherweise auch nicht, also musste es sein. 

Später erfuhren wir, dass ausgerechnet während jener Tage die Strahlenwolke klammheimlich unter der russischen Infosperre über Estland hinweg gezogen war. 

Der Groll in der Bevölkerung darüber war groß, aber das war er seit zig Jahren. Das war für uns alle nur ein weiteres Beispiel, wie unfähig und menschenverachtend das sowjetische System war. 

Wenn ich eine Liste mit möglichen Ursachen für meinen Krebs schreiben wollte, würde sie lang, und ein Punkt darin wäre sicherlich Tschernobyl. Da wir damals keine große Wahl an Lebensmitteln hatten, bin ich mir sicher, dass ich mir das eine oder andere Becquerel in dieser Zeit gern oder ungern schmecken ließ. Nur auf Pilze haben wir, glaube ich, verzichtet, die im Frühjahr in Estland allerdings eh rar gesät sind.

Ich kannte übrigens einen der sogenannten „Liquidatoren“. Was für ein scheußliches und zudem unzutreffendes Wort! Die Sache ist ja heute noch nicht wirklich „liquidiert“, außerdem suggeriert es etwas Machtvolles wie „Terminator“. Die verängstigten, verhuschten Gestalten, deren vermutlich weit aufgerissene Augen man nur wegen der „Schutz“Brillen nicht sehen konnte, verkörperten nichts davon. Und was sie in erster Linie, zusammen mit einem Schaufel voll Schutt, in ein riesiges Loch reinkippten, war ihre gesunde Zukunft.

Der „Liquidator“, den ich kannte, war ein Junge aus der Nachbarschaft in Tallinn, der zu jener Zeit seine zweijährige Wehrpflicht in Russlands Pampa absolvierte, denn die Esten wurden nie in Estland stationiert, um eine mögliche nationale Gruppenbildung zu unterbinden. Und der wie so viele andere arme Säue für 40 Sekunden auf das Kraftwerkdach zum Schaufeln geschickt wurde. Jedenfalls fielen ihm ziemlich bald die Haare aus, um die er sehr trauerte, und ob er heute noch lebt, weiß ich nicht. Damals schaute ich seiner diesbezüglichen Demonstration fasziniert schaudernd zu, nicht ahnend, dass ich das irgendwann selber viel eindrucksvoller würde vorführen können, wenn ich denn wollte. 

Damals in Estland und ganz Sowjetunion wäre niemandem in den Sinn gekommen, gegen AKW-s zu protestieren. Erlernte Hilflosigkeit nennt man das in der Psychologie. Wobei es in der Psychologie einen Zustand beschreibt, der nach vielen negativen und verinnerlichten Erfahrungen zwar plötzlich wieder veränderbar wäre, was der Proband (üblicherweise ein Hund) allerdings nicht weiß. In der Sowjetunion war gar nichts veränderbar, außer dem Lebensumstand, dass man vermutlich in den Knast oder sonst wohin gesteckt worden wäre.

Mich sucht man allerdings auch heute vergeblich auf der Straße mit einem Transparent in der Hand: „Abschalten!“ Die sollen ruhig abschalten, ist mir auch recht. Fanatismus verfalle ich aber nicht so leicht, außerdem tangiert mich persönlich eine Strahlenangst nicht besonders. Bin schon längst verstrahlt, meine maximale Lebensdosis dürfte erreicht sein. Aber die Sorge derer, die eine längere Lebenserwartung haben als ich, verstehe ich natürlich sehr gut. Bin ja nicht blöd.

Hysterie und blinder Aktionismus haben mir aber schon immer Angst gemacht, im Gegensatz zu allen theoretisch möglichen GAU-s und Super-GAU-s. Ich finde es in Ordnung, erst mal innezuhalten und zu überlegen, was man denn nun macht. Auch wenn "Moratorium" ein mindestens so scheußliches Wort ist wie "Liquidator". Wenn mir etwas Angst macht, dann nicht unbedingt die Möglichkeit, dass in der Zwischenzeit ein Flugzeug in ein AKW stürzen könnte, sondern die angekündigten Stresstests. Tschernobyl passierte bekanntlich im Zuge eines solchen Tests. Und idiotische Hau-Ruck-Aktionen (wie z.B. die Lachnummer mit E10) fände ich hier wirklich nicht wünschenswert. Nachher kostet das alles wieder wahnsinnig viel Geld, läuft aber wegen der kurzen Planungs- und Vorlaufzeit alles irgendwie schief und muss überdacht, nachgebessert oder womöglich wieder abgebaut werden. Oder bringt woanders riesige Probleme mit sich, die vermeidbar wären wie die allwinterlichen Überraschungen mit den Winterreifen. Ach, das ist alles gar nicht mein Metier, Schluss damit.

Aber meine eigene Lehre, die schnell und gern mal die Vogelperspektive eines aus der Gesellschaft Herausgefallenen einnimmt, ist einfach wieder mal: Das kleine größenwahnsinnige Tierchen namens Mensch hat wieder mal nichts im Griff - weder die Natur noch das Atom. (Die AKW-s sind übrigens ein interessantes Beispiel für die faszinierende Wechselwirkung zwischen Phänomenen auf Makro- und Mikroebene, finde ich.) Wenn es alles nicht so tragisch wäre, wäre das eine wohltuende Erkenntnis und gut fürs Selbstbewusstsein der Menschheit. Beziehungsweise vielleicht nicht gut, aber gesund für das Selbstbewusstsein der Menschheit. Aber leider ist es ja diesmal so tragisch. Das ist halt keine Aschewolke über Island, das den Flugverkehr lahm legt. Damals habe ich mir ehrlich gesagt zwischendurch sogar ins Fäustchen gelacht, weil ich selber nirgendwohin fliegen musste. Schön egoistisch und ignorant, klar. Ich bitte wirklich und aufrichtig um Entschuldigung bei Leuten, die in Bredouille kamen, aber ein kleines Schnippchen seitens der Natur fand ich an sich nicht so übel. Nun liegt die Sache natürlich völlig anders. Trotzdem: Die Natur ist nicht grausam, sie IST einfach.

Japan

Ich war in den letzten Wochen etwas schwach auf der Brust. Mittlerweile kann ich allerdings berichten, dass ich, ganz im Gegenteil, körperlich endlich wieder richtig stark auf der Brust bin. Auch wenn es diese Redewendung gar nicht gibt. 

Aber über mich zu berichten kommt mir momentan so schäbig und unwichtig vor. Was in Japan vor sich geht, nahm und nimmt mich so mit, dass ich tagelang an kaum etwas anderes denken konnte und regelrecht meine Lebensfreude und den Antrieb verlor. Als zu allem Überfluss auch noch Gaddafi wieder auf dem Vormarsch war und niemand auf der Welt was unternahm, war der Ofen bei mir endgültig aus. Die Welt schien für eine Weile gar kein lebenswerter Ort mehr zu sein.

Der Junge, der den Reportern mitten im Schutt mit der metallenen Stimme der Resignation eines nicht mehr Schockierten, sondern mitten im Trauma Angekommenen berichtet, dass er niemanden mehr hat. Die Frau, die ein Foto und eine Gardine ihrer 99-jährigen Mutter aus einem Müllhaufen zieht und sich der Kamera erst entreißen kann, als sie entschuldigend mit der Hand abwinkt. Eine doppelte Unhöflichkeit muss es für sie gewesen sein: Gesichtsverlust wegen Gefühlezeigen und dann auch noch die unerhörte Bitte, sie in Ruhe zu lassen. 

Ich würde all die traumatisierten Menschen in Japan in mein Bett legen (in meinem diesbezüglichen Wunschtraum ist es nämlich fast so groß wie Japan), sie ganz warm zudecken und in einem Kochbuch oder Wikipedia nachlesen, wie man eine richtig leckere Miso-Suppe kocht.

Mein Wunschtraum geht aber noch weiter. Aufgrund einer Verkettung der unglaublichsten Umstände ist im Zeit-Raum-Kontinuum ein nie da gewesener und von Wissenschaftlern aller Welt gerade fieberhaft untersuchter Sprung entstanden, wie bei einer – nein, nicht Kontinental-, sondern Schallplatte -, somit ist dies alles nicht geschehen und ich kann ihnen berichten, sie könnten nach einem schönen Frühstück mit grünem Tee die Flugzeuge besteigen, die für sie schon bereit stünden, um sie zu ihren Lieben nach Hause zu bringen. Sie würden auf meinen Tee pfeifen. Nein, natürlich nicht. Sie würden ihn allerhöflichst und mit großem Bedauern ablehnen, weil sie aufgrund der unerwarteten freudigen Umstände sich nicht in der Lage sähen, diesen zu sich zu nehmen, auch wenn sie meine Gastfreundschaft sehr zu schätzen wüssten und es demzufolge sehr gerne täten etc. Und ich würde sie sofort in meinem uralten Twingo zum Flughafen fahren, alle Hunderttausend.

Aber eigentlich kommt das reale Bild dem sogar näher als mir lieb ist: Sie liegen ja wirklich in großen Hallen wie in einem riesigen, aber leider unbeheizten Bett, Glied an Glied, und essen ihre Miso-Suppe oder was anderes. Und ich kann ihnen nicht helfen.

Es gab eine Zeit vor vielen Jahren, als ich morgens immer mit dem Gedanken aufwachte: „Krebs!“ Jetzt ist mein erster Schreckgedanke: „Japan!“ Die kleine (trügerische?) Atempause momentan ist wirklich eine kleine (trügerische?) Erleichterung.

2006 war ich selbst in Japan, deshalb ist mir keine Sekunde die Frage gekommen, die zurzeit überall öfters geäußert wird: „Wie kann es sein, dass die Japaner es so besonnen hinnehmen?“ Nichts anderes habe ich von diesem bescheidenen, ruhigen und rücksichtsvollen Völkchen erwartet. Selbst wenn die Versorgungslage so schlimm würde, dass tatsächlich Plünderungen stattfänden, stelle ich sie mir ungefähr so vor: „Bitte, nach Ihnen, plündern Sie ruhig zuerst, ich komme dann nach Ihnen dran“. Vermutlich würden sie noch Geld für die mitgenommene Ware neben die Kasse legen.

Jedenfalls leide ich mit ihnen wie ein Hund. Und ich schäme mich ein wenig fremd, dass die Japaner noch nicht mal den Schlamm und die aller-, allererste Schockstarre aus dem Gesicht wischen konnten, dass kaum eine einzige Leiche geborgen worden war, als schon die AKW-Debatte in Deutschland losging. Klar - sinnvoll und notwendig, nur: Hätte man nicht wenigstens ein paar Tage warten können, bevor man losschrie: "Was bedeutet das für uns?! Sind wir auch in Gefahr?!" 

Sei's drum. Vielleicht war diese Pietätlosigkeit auch nur Kanalisierung der eigenen Hilflosigkeit, weil man von hier aus nicht wirklich helfen konnte. Ich hoffe es.

Abgesehen davon: Vielleicht sind wir in Gefahr. Vielleicht geht die ganze Welt unter. Das tut sie sogar ganz sicher, sobald die Sonne nicht mehr existiert. Aber Sonne hin oder her, in Gefahr sind wir permanent. Das Leben ist halt eine verdammt gefährliche Angelegenheit, im Kleinen wie im Großen. Irgendwie ist es doch zustande gekommen, dass auf der heutigen Landkarte kein Gondwana mehr zu entdecken ist und dass die Lage der Erdachse uns einen vier Stunden kürzeren (oder längeren?) Tag beschert als vor einigen Milliarden Jahren. Ja, wie bloß? Ich tippe da mal ganz „provokativ“ auf Verschiebungen der Kontinentalplatten. Aber diese Vogelperspektive ist gerade wohl weder sachdienlich noch gefragt.

Ich begebe mich lieber wieder meinem Tagtraum hin und tröste die Japaner in meinem riesigen warmen Bett.