Montag, 27. Dezember 2010

Meine letzte Beerdigung

Meine letzte Beerdigung war im Jahr 2008. Es war eine Mitpatientin, eine gute Bekannte, mittlerweile fast Freundin.

Auf dem Weg zur Kirche kam ich an einem Holzkreuz vorbei, das provisorisch an einer Mauer lehnte, bereit, woandershin gebracht zu werden. Wie bestellt und nicht abgeholt. Dort stand ihr voller Name, darunter das Geburtsdatum sowie das Todesdatum, das erst einige Tage zurücklag. Sie war 49 Jahre alt geworden. Selbstverständlich sah ich dort sofort meinen Namen. (Und selbstverständlich hoffte ich, auch 49 zu werden. Diese ewigen, unvermeidlichen Rechenaufgaben - wer hat wie lange gelebt, und wer hat wieviel Jahre mehr gelebt als ich. Furchtbar. Dabei hätte ich ihr auch 89 gegönnt.)

Als ich bei der Kirche ankam und reingehen wollte, wurde vor meiner Nase die Kirchentür zugeschlagen, auch wenn ich schon fast meinen Fuß in der Tür hatte. Mit einer verscheuchenden, herrischen Handbewegung, die ich nur aus historischen Filmen kenne.

Ich war... hm, sauer und beleidigt, auch wenn ich kein Recht dazu hatte. Diesmal war ich allerdings wirklich nicht Herrin der Gründe gewesen, 1,5 Sekunden zu spät eingetroffen zu sein. Die Zeremonie hatte ja eh Verspätung gehabt.

Ich schaute mir den verschneiten Friedhof an, sah auch die Stelle, wo sie gebettet werden sollte, weil es ein frischer schwarzer freier Schlund war. Und wurde immer saurer. Ich dachte: Ihr Leute da drin, ihr wisst gar nicht, dass ich vielleicht die nächste sein werde. Warum lasst ihr mich nicht rein?

Penetranterweise versuchte ich immer wieder, die schwere Tür aufzuschieben, aber sobald ich meine Nase reinhielt, wurde sie von innen gegen mich gedrückt und dann festgehalten. Die Kirche war einfach voll, und der Typ in der Lederjacke, der die Tür zuhielt (der Türsteher sozusagen), hatte wohl keinen Bock darauf, dass ich meinen Hals immer wieder über seine Schulter recken würde, um auch was mitzubekommen. Womöglich würde ich ihm noch in den Kragen rotzen vor lauter Rührung. Nein, so jemand muss draußen bleiben.

Ich hielt mein Ohr immer wieder an die Tür, hörte aber nur die ab und zu einsetzenden Musikstücke. Unter anderem Louis Armstrong mit seiner fürs Singen eigentlich ungeeigneter Stimme: "What a wunderful world". Das hätte ich auch fast genommen, als ich - früher - noch mein Begräbnis plante, weil ich dachte, das Lied wäre originell. Also nicht.

Es muss eine sehr bewegende Feier gewesen sein, denn die herausströmenden Menschen hatten fast ausnahmslos rote Nasen und Augen. Ich wartete, bis alle draußen waren, dann ging ich zum Sarg und legte meine weiße Rose, deren Grünzeug sogar mit der Floristin besprochen worden war - "Das wird zu Beerdigungen immer gern genommen" (was mich fast wieder davon abgebracht hätte) -, auf den Sarg. Und heulte los. Peinlicherweise nicht nur ihretwegen, sondern auch weil ich ausgesperrt worden war. Ich sagte ihr: Wenn du wüsstest, wie die mit mir umgegangen sind - du würdest dich im Grab umdrehen. Dabei war sie noch gar nicht im Grab.

In einer Ecke stand noch der Trauerredner herum. Aus Verlegenheit, bei meiner Heulattacke ertappt worden zu sein, sagte ich ihm, dass ich die Feier und seine Rede sehr bewegend fand. Der Trauerredner sagte, dass er sie nicht persönlich kannte, sich aber was zurechtgebastelt hätte, aufgrund der Informationen, die der Ehemann gegeben hätte. Das sei beim "Publikum" wohl tatsächlich ganz gut angekommen. Ich fragte ihn nach einer Visitenkarte, schrieb mir sogar noch die Websiteadresse auf, die er erst kürzlich eingerichtet hat, und versprach ihm, gegebenenfalls auf ihn zurückzukommen.

Danach druckste ich mich noch ein bisschen auf dem Vorhof der Kirche herum. Ich hörte aus den Gesprächsfetzen heraus: Sie wird gar nicht begraben, sondern eingeäschert, das Grab war also für jemand anders bestimmt. Das wusste ich gar nicht, über ihre Beerdigung hatten wir nie gesprochen. Als ich das Grüppchen entdeckte, dem ich eigentlich die Hand schütteln und mein Beileid aussprechen wollte, fiel mir auf, dass ich die einzige Person in der schwarzen Gesamtmasse war, die einen weißen Mantel trug. Also machte ich mich klammheimlich und endgültig aus dem Staub.

Fazit: Beerdigungen sind nichts für mich. Und ich nichts für Beerdigungen.

Hass

Als ich als junge Studentin kellnerte, gab es in dem Restaurant einen Stammgast, dessen Tochter bei einem Autounfall ums Leben kam. Sie war nur fünf-sechs Jahre älter als ich gewesen, also Ende Zwanzig. Einmal sagte mir eine Kollegin, dass sie beobachtet hätte, wie dieser Mann mich hasserfüllt anstarrte, sie hätte dabei seine Gedanken gelesen: "Warum darf sie leben und meine Tochter nicht? Wäre bloß anstelle meines Kindes sie gestorben." Ich sah der Tochter, die ich allerdings noch nie gesehen hatte, angeblich etwas ähnlich. Ich hatte allen Mitleid mit diesem Mann gehabt, auch danach noch, aber irgendwie verstörte es mich doch so, dass ich ihn fortan nur noch mit leichter Beklemmung bediente und versuchte, dabei nicht allzu sehr vom Leben zu strotzen.

Viele Jahre später passierte etwas Ähnliches, allerdings bekam ich das auch selber mit. Ich kam zur Blutabnahme, und da ich danach was vorhatte, hatte ich mich zurecht gemacht, trug auch meine Perücke. Aus dem Arztzimmer kam eine sehr alte Frau im Rollstuhl raus, bestimmt stark über 80, wenn nicht über 90, geschoben von ihrem ebenso alten Mann. Sie trug ebenfalls eine Perücke, das war nicht schwer erkennbar. Während sie an mir vorbeirollte, starrten die großen, ehemals vermutlich blauen Augen in ihrem eingefallenen gelblichen Gesicht mich unentwegt an. Ich war zu dem Zeitpunkt der einzige Mensch auf dem weiten Flur. Ich spürte förmlich, wie sie mich verfluchte, weil sie mich für jung (noch unter 40) und gesund hielt. Und vermutlich die ganze Welt, die ich für sie wahrscheinlich in diesem Moment repräsentierte. Ihr Mund, der eh nur ein Strich war, verkrümmte sich zu einem hässlichen, verächtlichen Bogen. Dass ihr Gesicht plötzlich noch so viel Elastizität entwickeln würde, hat mich überrascht. Ich wusste nicht, was daran verachtenswert sein sollte, am Leben zu sein. Sie war doch noch selbst am Leben. Aber es war ein körperlich spürbarer Hass auf mich. Wie in einem Horrorfilm spürte ich für einen Moment einen kalten Hauch um meine Ohren und glaubte, wahrzunehmen, wie der Saum meiner Bluse in der Luft wehte.

Natürlich konnte sie nicht wissen, dass ich womöglich noch vor ihr sterben würde. Ich war trotzdem unendlich traurig und konnte gar nicht genau sagen, warum. Vermutlich fühlte ich mich nur ungerecht behandelt. Ich weiß es nicht. Hoffentlich werde ich nie so wie sie. Die Chancen stehen zum Glück gut.

Ich bin die längste

Kürzlich plauderte ich mit einer Arzthelferin in meiner Arztpraxis (nein, nicht in meiner, sondern in der, wo ich immer hingehe), und sagte halb im Spaß, dass ich bald wohl der Johannes Heesters dieser Praxis bin, so lange wie sie mich schon kennt. "Oder wie viele Patienten haben Sie, die so lange schon zur Chemo kommen?" Ich rechnete - um nicht zu sagen, hoffte - auf eine Antwort á la "Hach, Frau Kass, da haben wir ganz andere Fälle". Aber die Arzthelferin überlegte kurz, dann leuchteten Ihre Augen auf: "Sie haben Recht, Sie sind bald schon eine der längsten!"

Jetzt wollte ich die Frage spezifizieren, also fragte ich: "Und Leute mit Lebermetastasen? Wie sieht's da aus? Haben sie überhaupt noch welche, die immer noch kommen?" Abermals überlegte sie kurz, dann verkündete sie fast enthusiastisch: "Also mit Lebermetastasen fällt mir grad' niemand ein, der noch da wäre. Nur Sie. Also sind Sie wohl wirklich die längste".

Die Arzthelferinnen in der Praxis sind supernett, ich habe sie alle schon längst ins Herz geschlossen. Aber falls sie dachte, mir damit eine Freude zu bereiten, hat sie sich geirrt.

Sonntag, 12. Dezember 2010

Malaysia

So sah ich vor 5-6 Wochen aus - an einem der Tage, die in der Rangliste meiner glücklichsten Tage in diesem Jahr ganz weit oben platziert sind. Die Aufnahmen sind auf der Insel namens Perhentian Besar entstanden.
Jetzt sehe ich noch genauso aus, nur etwas blasser. 
Manchmal kann ich ja selber nicht glauben, dass ich todkrank bin. An dem Tag fühlte ich mich jedenfalls kerngesund - vermutlich gesünder als zwei Drittel der gesamtdeutschen Bevölkerung sich an diesem Tag gefühlt haben.